Vorreiter dieser neuen Gruppierung war zunächst die 1909 gegründete „Neue Künstlervereinigung München“. Aus ihr ging in der Folge der „Blaue Reiter“ hervor. Im Gegensatz zu der Gruppe „Brücke“ in Dresden und Berlin fühlte sich die Münchner Künstlerschaft als Sammelbecken und Vorreiter der europäischen Kultur mit enger internationaler Verflechtung.
Die führende Rolle übernahmen die in München lebenden Künstler der russischen Kolonie mit Kandinsky, Jawlensky, Marianne von Werefkin und Wladimir Bechtejeff. Mitglieder der „Neuen Künstlervereinigung“ waren ferner Gabriele Münter, Rudolf Erbslöh, Alfred Kubin und seit 1911 Franz Marc.
Auch der Generaldirektor der Bayerischen Kunstsammlungen, Hugo von Tschudi, unterstützte diese fortschrittlichen Kräfte der Gruppe. Ihm widmeten Kandinsky und Marc später den Almanach „Der Blaue Reiter“. Aus dieser Künstlergruppe ging 1911 der „Blaue Reiter“ hervor, nachdem persönliche und künstlerische Differenzen um Kandinskys Weg in die Abstraktion eine Spaltung ergeben hatten. Um Kandinsky, Münter und Marc sammelten sich die fortschrittlichen Künstler. Jawlensky und andere sympathisierten offen mit Kandinsky, wollten jedoch keinen endgültigen Bruch mit den alten Freunden. Die Gründung des „Blauen Reiters“ erfolgte am 18.12.1911 in der Galerie Thannhauser. Hier wurde die erste Gruppenausstellung eröffnet, zu der auch August Macke, Heinrich Campendonk, Robert Delaunay aus Paris, Arnold Schönberg u.a. eingeladen worden waren. Die Bilder gingen anschließend als Wanderausstellung nach Berlin, wo Herwarth Walden in seiner „Sturm“-Galerie auch Werke von Paul Klee, Jawlensky und Feininger aufnahm. 1912 veranstalteten Kandinsky und Marc eine weitere Gruppenausstellung mit graphischen Arbeiten.
Das geistige Band, das alle diese befreundeten, aber doch unterschiedlich ausgebildeten Künstler verband, waren Wilhelm Worringers Buch „Abstraktion und Einfühlung“ von 1908, Kandinskys 1910 verfasste Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ und besonders der 1911 zusammengestellte und 1912 veröffentlichte Almanach „Der Blaue Reiter“. Alle diese Schriften gehören zu den einflussreichsten Zeugnissen der beginnenden modernen Kunst, da hier die Ursachen, Quellen und Vorbilder des modernen Bildes, seine Entwicklung, geistige Botschaft und ethisch-moralische Kraft überdeutlich formuliert wurden. Im reich illustrierten Almanach finden sich als Inspirationsquellen Negerplastiken, Beispiele der Volkskunst, archaische Skulptur, japanische Graphik oder gotische Sakralkunst. Die Durchdringung der Materie und aller sichtbaren Eindrücke durch geistige, unter der Oberfläche liegende abstrahierte Werte, die Synthese aus Umwelt und innerer Anteilnahme (Seelenvibration), die subtile musikalische Formgebung in Linie und Farbe, die Einbettung des Gegenstandes in einen kosmischen Zusammenhang wurden durch den „Blauen Reiter“ zu Grundlagen der gesamten modernen Kunst. Es gab in München keinen Gruppenzwang, sondern allein den Wunsch, das neue Weltbild zu verkünden und hierfür Ausstellungen zu organisieren. Marc empfand die Kunst als ein „geistiges Gut“, und nach Kandinsky entstand jedes Werk aus einer „inneren Notwendigkeit“.
Aus dieser Einstellung gegenüber der Realität zog Kandinsky um 1910 die Konsequenz, indem er kein Abbild der Natur mehr suchte und schrittweise den Gegenstand aus dem Bild verbannte. Die Entdeckung des von „innerem Glühen durchtränkten Bildes“ machte Kandinsky keineswegs unvorbereitet und zufällig. Die dichte Reihe der Arbeiten nach 1910, die er „Impressionen“ oder „Improvisationen“ nannte, verdeutlicht, dass die Gegenstände nicht völlig verschwanden, sondern als zeichenhafte Chiffren und Erinnerungen präsent und lesbar blieben. Erst im Jahre 1914 hat sich dieser Prozess einer völligen Loslösung vom Gegenstand voll ausgeprägt, so dass auch von den Bildtiteln keine gegenständlichen Assoziationen mehr möglich sind.
Bis zum Ausbruch des Krieges und dem Ende der Zusammenarbeit im „Blauen Reiter“ kombinierte Kandinsky jedoch die Eindrücke der „inneren Natur“ mit den Erlebnissen der sichtbaren Welt. Knäuelartige Verdichtungen aus Linien und farbigen Rinnsalen überziehen streumusterhaft die Bildräume. Besonders die „Malerei mit rotem Fleck“ kennzeichnet diese im Bild sich abwickelnde Dramatik wogender Farb- und Formverschiebungen und Durchbrüche.
In der Mitte ist unten ein Schiff zu erkennen, darüber steigen gewaltige Hügelketten wellenförmig auf. Der Betrachter muss nun aber lernen, das Bild als Darstellung einer Stimmung und eines Farbklanges zu erleben und nicht mehr als Wiedergabe von Gegenständen. „Der Sinn ist nicht mehr der Gegenstand, sondern der innere Klang dieser Form“, so Kandinsky. Dies ist die Botschaft Kandinskys; sie bestimmt seine Sonderstellung als Pionier der gegenstandslosen autonomen Malerei. Schülerin und bis 1915 Lebensgefährtin von Kandinsky in München war Gabriele Münter. Kandinskys wache Intelligenz und seinen konsequenten Weg zur Abstraktion bewunderte sie grenzenlos. „Er (Kandinsky) hat mein Talent geliebt, verstanden, geschützt und gefördert“, bekennt sie in ihren Erinnerungen, während Kandinsky Münters enorme Gestaltungskraft, Sensibilität und Beharrlichkeit rühmte.
Gabriele Münter ging nicht den Weg der Ungegenständlichkeit und der „heroischen“ Komposition, sondern beseelte gleichsam mit dem vollen tiefen Klang ihres strahlenden Kolorits die Stille und erlebte Wirklichkeit der Dinge. Diese Weltsicht schlichten, doch intensiven Empfindens verbindet sie mit Paula Modersohn-Becker. Auch Gabriele Münter bewunderte wie Kandinsky die einfache, aber kräftige Malweise der bayerischen Hinterglasmalerei, in deren Technik auch sie malte.
In großer Konzentration formte sie ihre Porträts wie die „Sinnende“ Die an den linken Vordergrund gerückte Figur mit den traumhaft blickenden Augen und den blassen Gesichtszügen wird von Dingen des Alltags wie Tischlampe, Äpfel und Blumenvase umgeben. Sie verwandeln sich jedoch unmerklich zu Sinnbildern für Harmonie und Melancholie. Die blauen Blüten über dem Kopf erinnern an die „Blaue Blume“ der deutschen Romantik als Zeichen für Inspiration und Phantasie.
Als Franz Marc im Jahre 1911 die Bilder seines Freundes Kandinsky sah, empfand er „im ersten Moment die große Wonne seiner starken, reinen, feurigen Farben, und dann beginnt das Gehirn zu arbeiten; man kommt nicht los von diesen Bildern und man fühlt, dass einem der Kopf zerbricht, wenn man sie ganz auskosten will.“ Für Marcs künstlerische Entwicklung seit 1911 wurde die Nähe zu Kandinsky ebenso wichtig wie die Bekanntschaft mit August Macke in Bonn. Gemeinsames Ziel war der Ausdruckswert und die Anwendung reiner Farben. Auf der Suche nach dem Farbklang im Bild reiste Marc 1912 mit Macke nach Paris zu Robert Delaunay, dem Wiederentdecker des Farblichts.
Malerei mit rotem Fleck, 1914
Öl auf Leinwand, 130 x 130 cm
Paris, Musée National
d’Art Moderne, Centre Pompidou https://www.centrepompidou.fr/
Sinnende, 1917
Öl auf Leinwand, 66 x 99,5 cm
München, Städtische Galerie im Lenbachhaus (www.lehnbachhaus.de
Die großen blauen Pferde, 1911
Öl auf Leinwand, 105 x 181 cm
Minneapolis, Walker Art Center (www.walkerart.org/)
Seiltänzer, 1914
Öl auf Leinwand, 82 x 60 cm
Bonn, Städtische Kunstsammlungen (www.kunstmuseum-bonn.de)
Tirol, 1913-14
Öl auf Leinwand, 136 x 144 cm
München, Staatsgalerie moderner Kunst (www.pinakothek.de/)
Stilleben mit zwei Köpfen, um 1920
Öl auf Leinwand, 82 x 71,5 cm
Bonn, Städtische Kunstsammlungen (www.kunstmuseum-bonn.de)
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