DAS ERSTE ABSTRAKTE AQUARELL von Wassily Kandinsky war der Durchbruch zur Gegenstandslosigkeit

Bildanalyse, Expressionismus, Moderne Kunst - Die Malerei des 20. Jahrhunderts


Werkangabe


Abstrakte Kunst
Wassily Kandinsky, Das erste abstrakte Aquarell, 1910 
Papier, 50 x 65 cm.
Paris, Musée National d’Art Moderne, 
Sammlung Nina Kandinsky.

Das Erste abstrakte Aquarell von Kandinsky bedeutete für den Maler selbst einen Durchbruch zur Gegenstandslosigkeit. Es fällt in die Zeit, in der Kandinsky an seiner Schrift »Das Geistige in der Kunst« arbeitete bzw. sie eben fertiggestellt hatte. Diesem Werk waren mehrere abstrakte Holzschnitte beigegeben, deren Formen, wie die des Aquarells bzw. mit noch größerer Konsequenz als dieses, als nicht harmonisierend ausgeglichene Vielfalt stilisiert sind. 
Kandinskys Leinwandbilder der Jahre 1910/11 enthalten hingegen sämtlich noch gegenständliche Motive wie Berge, Bäume, Wege, Häuser, Tiere, Reiter, Männer oder die bekannte Kirche von Mumau.
Bildbetrachtung:
In diesem ersten abstrakten Aquarell, das Wassily Kandisnky überhaupt malte, haben sich die schwarzen Linien und die Farbflächen gegeneinander verselbständigt. Es ist, als hätte die Aquarelltechnik den Schritt zur Gegenstandslosigkeit begünstigt. Jedenfalls wurde die in ihr liegende Möglichkeit der Formverflüssigung durch einen stark gewässerten Pinsel und eine rasche Pinselführung voll genutzt.
Aber auch hier sind die Ecken des Bildes, besonders die beiden unteren, durch runde Linienzüge abgepolstert. Die rote, vom linken Rand aus nach unten gebogene Linie trägt dazu bei, dass von den seitlichen Bildgrenzen her gleichsam eine Schale entsteht, in der die vielfältigen, doch ihrerseits zumeist abgerundeten Formen der Bildmitte aufgefangen sind.
Auch das »Chaos« dieses Aquarells ist, wenn auch nicht leicht durchschaubar, komponiert und insofern von den konzipierten Bildern des Abstrakten Expressionismus prinzipiell unterschieden.
Man kann das „Erste abstrakte Aquarell” Kandinskys als ein Eintauchen in tiefe, kindliche Seelenschichten auslegen, als einen Versuch, primäre, ästhetische, Reaktionen auf die Wirklichkeitsreize zu rekonstruieren. Handelt es sich um Laute und Syllaben, die noch kein Wort, keinen Satz bilden können? Nach anderer Ansicht stehen wir eher vor einer demontierten Mitteilung, vor „Wortfetzen, denen die sinngebende Syntax abgeht”. 
Jedensfalls entstand dieses Aquarell nicht willkürlich oder zufällig, sondern als ein Protest gegen die damalige modische Stilisierung der Jugendstilmaler, auch gegen die feste Flächenverschachtelung der Kubisten und gegen die Gestaltenentstellung der Expressionisten. 
Dieses „Aquarell” war ein Ausschreiten aus den erstarrten Formeln in einen Bereich der noch offenen Verbindungen, in eine Welt der entfesselten Elemente.“

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